Freitag, 28. Oktober 2016
Integrationskurse für Deutsche?
Heute ein spannender Text auf Die Welt:



Professorin Annette Treibel fordert mehr Integrationsleistung von den Einheimischen. Zitat: "Es gehe nicht an, dass sogar in Deutschland geborene und aufgewachsene Menschen mit Migrationshintergrund immer noch gefragt würden, wo sie eigentlich herkämen oder warum sie trotz ihres anderen Aussehens so gut Deutsch sprechen könnten." Das Leitbild einer Einwanderungsgesellschaft solle die Leitkultur ersetzen.

Ich halte es für einen völlig falschen Ansatz. Wenn wir nicht mal definieren können (oder wollen), was das Deutschsein bedeutet, und lieber unsere Kultur und Art des Lebens durch ein schwammiges "Leitbild der Einwanderungsgesellschaft" ersetzen, sollen wir uns nicht wundern, dass uns gerade die Zugewanderten als Menschen ohne eigene Kultur häufig sehen. Denn wie viel wert ist unsere Kultur, wenn wir sie nicht verteidigen?

Gerade für Menschen aus muslimisch geprägten, meistens autoritären Ländern ist ein nichts anderes als Zeichen der Schwäche.

Einiges in dieser Hinsicht erklärte mir mein Sohn, der in zwei Kulturen aufgewachsen ist (Deutsch/Polnisch) und - wie wahrscheinlich mittlerweile jeder in seiner Generation - viele Freunde hat, deren Eltern oder Großeltern aus verschiedenen Ländern nach Deutschland kamen. Im letzten Urlaub lernten wir ein paar Jungs kennen, mit denen er sich dort angefreundet hat. Ich fragte, woher sie kamen, und die Antworten überraschten mich: "Ich bin Albaner, Ich bin Kurde, Ich bin Libanese...". Alle sprachen perfekt Deutsch, so dass ich nochmal nachhakte. Was stellte sich heraus? Die ganze Truppe war in Deutschland geboren, mehr noch - zum Teil waren sogar die Eltern der Jungs in Deutschland geboren. Und der Libanese war noch nie in Libanon.

Warum sehen sie sich nicht als Deutsche, fragte ich später. Weil Deutsche in ihren Augen schwach sind, weil sie Loser sind, erklärte mir Andy. Er wird ohne Bedenken akzeptiert, weil er schliesslich auch ein "Migrant" ist. Wie schrecklich ist das, dachte ich. Die Jungs haben keine Heimat - die neue nicht, weil sie sie ablehnen, und die alte nicht, weil sie dort auch nicht mehr hingehören, und sie häufig nur aus den Erzählungen der Eltern kennen. Uns geht eine ganze Generation verloren, weil wir sie für das "Deutschsein" nicht begeistern können.

Dann fiel mir ein, dass Andy einige tschetschenische und ukraninische Freunde in Polen hat. Wie sieht es dort aus? Lehnen sie auch die polnische Kultur ab? Nein, sagte er. Sie wollen Polen sein. Der Patriotismus, der manchmal an Nationalismus grenzt, dieser unheilbare Stolz, den ich manchmal selbst belächelt habe, das Singen der Hymne mit ernster Miene und aus voller Kehle - all das integriert diese Menschen besser als Tausend Integrationskurse. Sie sehen darin eine Stärke und keine Schwäche.

Ist das das Rezept für eine gelungene Integration? Stolz zu sagen: "Ich freue mich, Deutsch zu sein"? Vielleicht ist es zumindest ein guter Anfang.

Quelle: https://www.welt.de/politik/deutschland/article159104452/Soziologin-fordert-Integrationskurse-auch-fuer-Deutsche.html

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Ich bin bei dem Thema Leitkultur durchaus auf Ihrer Seite, dieses politisch korrekte Krampfkartoffeltum kanns irgendwie nicht sein, was die Herzen und Hirne der Zuwanderer für unsere Gesellschaft gewinnt.

Gleichwohl ist die Fragestellung nicht verkehrt, welche Integrationshindernisse wir den Zuwandern in den Weg legen. Wir haben die sogenannten "Gastarbeiter" ja auch immer schön auf Abstand gehalten, ein Hassan hat es nach wie vor schwerer auf Lehrstellensuche als ein Hannes. Und meine Mutter hat in ihrer gutbürgerlichen Nachbarschaft im Stadtteil XX-Gartenstadt kein mehrstimmiges Halleluja ausgelöst, als sie voriges Jahr ihr Haus an eine türkische Familie verkauft hat. Da hieß es dann, man habe ja nichts gegen die, aber man sorge sich halt schon sehr um den Wiederverkaufswert der eigenen Immobilie...

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Ich glaube, es ist eben gerade nicht das "politisch korrekte Krampfkartoffeltum" um das es hier geht. Es ist das, was @aus-sicht-einer-Frau hier beschreibt, wenn ausländische Jugendliche die Deutschen als schwach oder als "Loser" bezeichnen. Ich kenne Zuwanderer, die es als durch und durch lächerlich und unmännlich empfinden, wenn ein Mann sich bei der Untreue seiner Frau/Freundin nicht mit dem Rivalen prügelt (ist gerade im Bekanntenkreis passiert!). Wenn ich dann eine Schlägerei als primitiv kritisiere, wird das nur mit Kopfschütteln registriert.

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Beim Thema Gastarbeiter gebe ich Ihnen absolut Recht. Die fairen Chancen beginnen immer mit der Bildung, und wenn es die Regel ist, dass Kinder der Zuwanderer in der Hauptschule landen, wird es nie klappen.

Ich war übrigens sehr erstaunt, als ich nach Deutschland kam und feststellte, dass die Kinder im Alter von 10 Jahren je nach Leistung in drei Gruppen geteilt werden. Dieses Modell kannte ich nicht, und halte es nach wie vor für das grösste Integrationshindernis. Ein Kind, dass mit 6 erst anfängt, Deutsch zu lernen, hat wenig Chancen in nur vier Jahren den schlechteren Start auszugleichen.

Ich glaube, dass die Deutschen manchmal gar nicht sehen, wie nett und offen und ausländerfreundlich sie sind! Ich kann als Migrantin nichts negatives berichten. Übrigens, mein Vorname lässt sich gar nicht aussprechen, und sehr häufig bekomme ich Briefe, die mit "Sehr geehrter HERR Dr. Xxx" beginnen. Insofern steht vielleicht Hassan besser da als ich. Und natürlich wird ein Arbeitgeber eher einen Deutschen einstellen, als jemanden, bei dem es nicht klar ist, ob er Deutsch spricht (damit meine ich mich, und nicht den hier geborenen Hassan). Daher war es mir immer klar, dass ich mich einfach etwas mehr anstrengen muss. Hat mir auch nicht geschadet! Ich würde aber auch nie auf die Idee kommen, die Opferkarte zu spielen, nur weil ich Hassan heisse.

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Ich sehe, dass Frau Behrens eine Minute schneller war als ich :)

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... habe ich auch gerade bemerkt. Aber es sind auch interessante Beiträge, bei denen man sofort etwas kommentieren will.

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@behrens:
Dieses etwas hemdsärmeligere Ethos ist ja nicht nur ein Zuwanderer-Phänomen, sondern auch nicht zuletzt ein Unterschichts-Ding, das am alleruntersten Rand der deutschen Gesellschaft auch so ähnlich gepflegt wurde oder immer noch wird. Nur fällt das nicht mehr so sehr ins Gewicht, weil es gar nicht mehr so viele Biodeutsche gibt, die dieser Schicht angehören.

Das Herabschauen auf deutsche "Loser" ist ja auch ein Stück weit Kompensation dafür, dass der krasse Kanak-Gangsta-Topchecker als Marginalisierter ja der eigentliche Loser in der Gesellschaft ist, sich das aber nicht eingestehen kann und will, um die Selbstachtung nicht völlig zu verlieren.

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@mark793:

Das ist sicherlich eine der möglichen Erklärungen. Was ich aber in der polnischen Migrantencommunity beobachten konnte, war eher ein umgekehrter Prozess. Gerade die nicht gebildeten Polen waren plötzlich deutscher als die Deutschen, sprachen zu Hause Deutsch mit einem schrecklichen Akzent und taten häufig so, als ob sie kein Polnisch könnten. Dieses Verhalten war fast nur in den wenig gebildeten, ärmeren Kreisen zu sehen. Die gebildeten, Ärzte, Architekten usw. hatten kein Problem damit, sich als Polen identifizieren zu lassen. Deswegen fand ich die Gespräche mit den Jungs so überraschend. Das waren auch keine typischen armen, benachteiligten Teenager, sonder Real/Gymnasialschüler.

Musste über "Kanak-Gangsta-Topchecker" schmunzeln ;-)

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Das ist tatsächlich interessant, aber ich sehe in einer polnischen Identität, die weiterhin gepflegt wird, kein so grundsätzliches Integrationshindernis. Es leben und arbeiten ja sehr viele Polen in Deutschland, und die meisten tun dies völlig unauffällig. Der halbe Ruhrpott hat polnische Wurzeln, aber da fragt heute nach soundsovielen Generationen keiner mehr danach. Solange da keine größeren kulturellen und religiösen Unterschiede vorherrschen als zwischen Polen und Deutschen, kann man schon darauf vertrauen, dasss die Zeit es richten wird.

Da sehe ich bei unseren orientalischen Neubürgern ein viel größeres Problem-Potenzial.

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Ja, das stimmt. Manche integrieren sich besser, manche schlechter. Ich frage mich manchmal, warum es ausgerechnet bei Menschen aus muslimischen Kulturen so schlecht klappt und meine Theorie ist, dass es an der unterschiedlichen Rolle der Frau liegt. Ich glaube, dass das wirklich der Kern des Problems ist. Da westlicher Lebensstil zwar toll ist, wenn man Mann ist, aber ziemlich unerwünscht für muslimische Frauen, verwundert es nicht, dass unter muslimischen Einwanderern die Mischehen bei ca. 10% liegen, bei allen anderen Einwanderergruppen bei 60%. D.h. auch nach ein paar Generationen gibt es keinen wesentlichen Durchmischungseffekt, und zum anderen muss man die eigenen Frauen vor bösen westlichen Einflüssen schützen, was wiederum die Abgrenzung und Parallelgesellschaftbildung fördert.

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Interessanter Gedanke
Darüber muss ich mal nachdenken.

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Ich halte das für einen ganz wesentlichen Punkt. Weswegen ich auch wenig Verständnis dafür habe, dass unsere Netzfeministinnen wie Wicorek, Stokowski, Strick und wie sie alle heißen diesbezüglich einen massiven blinden Fleck kultivieren aus lauter Sorge um rassistische Vereinnahmung.

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Absolute Zustimmung. Es macht einen sprachlos, wenn die Antwort auf die Silvesternacht in Köln oder sexuelle Belästigungen im Schwimmbad ein Verbot der Herrenwitze ist... Einfach nur blind, die Damen.

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@c.fabry: Ich glaube, dass diese Theorie auch ein bisschen erklärt, warum es diesen Ländern so schlecht geht, vor allem wenn man sieht, wie andere - früher noch ärmere - Länder sie schon längst überholt haben. Wenn sich die Stellung der Frau so stark von der Position des Mannes unterscheidet, bleiben die meisten Frauen zu Hause und Männer gehen arbeiten. Das führt zum einen dazu, dass dem Land die Hälfte der verfügbaren Ressourcen faktisch fehlt, und zum anderen dazu, dass sehr viele Kinder geboren werden (was sollen die Frauen anderes machen, wenn ihr Lebensschwerpunkt zu Hause ist). Folgend kommt es zu einer Bevölkerungsexplosion, und viele junge Menschen können keine Arbeit finden, weil die Wirtschaft nicht in der Lage ist, so viele Stellen anzubieten - und wir haben die ganze Zeit im Hinterkopf, dass die Wirtschaft sowieso schwach ist, weil die Hälfte der Bürger im erwerbsfähigen Alter zu Hause rumsitzt, putzt und Kinder gebärt, anstatt an der Verbesserung des Bruttoinlandsprodukts mitzuwirken. Die zahlreichen jungen Arbeitslosen haben keine Chance, eine Familie zu gründen und wegen der strengen Sexualmoral (da sind wir wieder bei der Stellung der Frau) sind sie gezwungen, im Zölibat zu leben, was wiederum die Aggression und Frustration steigert, und in Konsequenz zu gewalttätigen Ausbrüchen oder gar Kriegen führt.

So, das war die Geschichte der Welt aus Sicht einer Frau ;-)

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Aus Sicht eines Mannes klingt das in weiten Teilen jedenfalls ziemlich plausibel, mit der kleinen Einschränkung, dass sich die Ressourcen einer Volkswirtschaft (und auch das Bruttoinlandsprodukt) wahrscheinlich nicht 1:1 entlang der Geschlechtergrenze verteilen. Aber der Gesamtargumentation tut das keinen Abbruch.

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Eine nichtvorhandene
sogenannte "Leitkultur" durch ein aufoktroyiertes "Leitbild einer Einwanderungsgesellschaft" ersetzen - was für eine *geniale* Idee!
Immer diese Leitplanken-Gedanken! Ich brauche keine Leitwölfe und auch kein politisch korrektes Gesülze. Patriotismus allerdings genauso wenig. Warum sollte ausgerechnet mein "Deutschsein" mir so wichtig sein, dass ich mich darüber identifiziere? Schlimm genug, dass man ohnehin nicht so einzigartig ist, wie man das selber hofft, und von anderen nach Erstkontakt und Augenschein gleich in siebenunddreißig verschiedene Kategorien eingeordnet wird (typisch hetero, typisch Ostwestfale, typisch Horror-Freak, typisch bipolar, typisch römisch-katholisch...), da muss ich nicht auch noch eine von diesen Kategorien, die nationale, nehmen und der irgendeine besondere Bedeutung andichten! Ich wäre lieber Kosmopolit als Deutscher, doch dazu fehlt mir das nötige Taschengeld und die seelische Stabilität. Also schäme ich mich nicht, und ich hasse auch mein Deutschsein nicht, aber ein bisschen unzufrieden bin ich doch damit. Also auch irgendwie ein Integrationsverweigerer ;)

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Wir gendern uns noch zu Tode und ich will nicht auf die Fahne schwören
Aus Sicht einer Frau: Dass wirtschaftlich schwache Regionen, ihre wirtschaftliche Schwäche aufgrund der traditionellen Rollenteilung erdulden müssen, halte ich aber für unwahrscheinlich.
1. Saudi Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate sind stinkreich, klar wegen des Öls, aber die verdienen ja schon lange nicht mehr ausschließlich im Erdölsektor. Zur Lage der Frauen in dieser Gegend muss man sich ja wohl nicht näher äußern.
2. Auch ausgebeutete und benachteiligte Frauen tragen -oft sogar in größerem Umfang als die Männer - zum Bruttosozialprodukt bei. In Afrika gibt es Gesellschaften, in denen die Frauen den ganzen Tag auf dem Feld knechten und die Herren durch die Welt der Rauschzustände marodieren. Auch von der Türkei oder Griechenland hört man, dass die Herren den ganzen Tag im Tee- oder Kaffeehaus abhängen und nichts gebacken kriegen, während die Frauen überall Geld zusammenkratzen und außerdem die Familie zusammenhalten. In Sizilien habe ich das auch so erlebt.
3. Wirtschaftlich schwache Länder sind deshalb schwach, weil der Weltmarkt sie in die Knie zwingt, beherrscht von denen, die den armen Ländern vor Jahrhunderten ´die Wirtschaftliche Grundlage und die gewachsene Kultur zerschlagen haben, um sich an der Beute zu bereichern, davon profitieren wir heute noch.
4. Ich glaube eher, dass die miese Stellung der Frauen eine Folge gesamtgesellschaftlicher Stagnation ist und nicht deren Ursache. Manchmal hat es vielleicht auch gar nichts miteinander zu tun.
5. Wenn die Frauen auf dem Arbeitsmarkt fehlen, warum reichen dann plötzliche die Arbeitsplätze nicht für ihre Kinder? Oder habe ich Sie falsch verstanden?

Prekarius:
Ich bin auch lieber Weltbürgerin, als Deutsche, ehrlichweise, wenn ich so etwas wie Zugehörigkeit oder Heimatgefühl kenne, dann enntweder Westeuropäerin oder gleich Westfälin. Nur weil die meisten Menschen so dumm sind, Nationalstolz mit Stärke zu verwechseln, muss ich mich deren Dummheit nicht ergeben.

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das ist doch genau das!! warum wollen wir nie zugeben, dass man deutsch und darauf stolz ist?! kein italiener hat damit ein problem italien zu lieben, kein franzose dass er stolz ist franzose zu sein, von den us-amerikanern und briten ganz zu schweigen....sind wir wirklich so durch die geschichte zerstört dass wir kein zugehörigkeitsgefühl oder heimatgefühl mehr haben? nun verbindet uns mit den anderen deutschen mehr als mit den imaginären "westeuropäern", wer von uns weiß überhaupt welche themen menschen in portugal zur zeit bewegen? und auch ich selbst empfinde es als peinlich zu sagen "ich bin stolz deutsch zu sein", gleichzeitig bemitleide ich mich und uns alle weil ich für diesen verkrampften schizofrenen umgang mit meinem deutsch-sein doch nichts kann. ich beneide die engländen, italiener, polen, franzosen usw dass sie einfach ohne große gedanken und ohne den inneren kampf so was sagen dürfen!!

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Wer singt denn z. B. in England oder Italien seine Hymne?
Ich finde Italiener, Engländer, Polen, Franzosen usw., die mit Pipi in den Augen und Hand auf dem Herzen ihre Hymne grölen und ihre Fahne anschmachten genauso total doof, wie Deutsche, die sowas machen.
Es gibt vielleicht Situationen, in denen ich das verstehen könnte, wo das Wir-Gefühl eine Rolle spielt, zum Beispiel in "Casablanca", wo in Ricks Café alle aufstehen und die Marseillaise singen oder wenn in Italien alle Fenster aufgehen, wenn man das Partisanenlied "Bella Ciao" singt. Ich könnte mir auch vorstellen mit Inbrunst das Lied der Deutschen zu singen, wenn ich unfreiwillig von meiner Heimat getrennt wäre oder widerliche Invasoren uns eine andere Kultur aufzwingen würden. Aber so ist es ja nicht. Mein Deutschsein ist keine Lebensleistung, das ist zufällig passiert. Warum soll ich darauf stolz sein?

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Das wird eine sehr interessante Diskussion hier! :-)

Vielleicht kurz zum Thema Patriotismus/Nationalstolz: Ich kann das natürlich als Nicht-Deutsche nicht ganz nachempfinden, was aber mir und wahrscheinlich den meisten hier lebenden Ausländern auffällt, ist der sehr komplizierte Umgang mit der eigenen Identität - und damit meine ich, ja, die Identität als Nation. In keinem anderen Land gibt es so viele Menschen, die bereit sind, sich zur eigenen Stadt, vielleicht noch Region, Europa oder Welt zu bekennen, aber die Verbindung zum eigenen Land wird sehr ungerne angesprochen oder in den Vordergrund gestellt. Dabei würde ich behaupten, dass den Deutschen aus Westfalen mehr mit einem Berliner verbindet als trennt. Und sicherlich mehr verbindet als mit einem Spanier. Dabei sind die Deutschen fantastische, unglaublich nette und sehr offene Menschen, und ihr macht diese Kultur so wertvoll und liebenswert! Es ist ein tolles Land, und ihr habt alle dazu beigetragen! Ich habe in vielen Ländern gelebt und keins hat mir so gut gefallen wie Deutschland. Es gibt also einiges, worauf man stolz sein kann, finde ich!

Vielleicht sind Menschen, die den Nationalstolz mit Stärke verbinden, ein bisschen dumm. Das wollte ich gar nicht beurteilen. Fakt ist aber, dass sehr viele Menschen aus den Regionen nach Deutschland kommen, in denen das Gefühl der Zugehörigkeit (zur Familie, zur religiösen Umma und zur Heimat) besonders stark ausgeprägt ist. Diese Menschen sehen, dass es den hier lebenden daran fehlt und ziehen leider den Schluss, dass die deutsche Kultur es nicht wert ist, sich zu ihr zu bekennen. Und ich, ein grosser Fan der Deutschen, finde das es schade ist. Ich weiß aber, dass die "Unzufriedenheit mit dem Deutschsein" (sehr schön ausgedruckt, Prekarius ;-)) auch mit der Geschichte zu tun hat und wollte hier eine emotionale Debatte gar nicht aufrollen oder jemandem zu nahe kommen.

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ich glaube, @aus-Sicht-einer-Frau, dass man es nicht verstehen kann, wenn man aus einem anderen land kommt. hier kann es nur "deutschland du mieses stück scheisse" auf den linksextremen demos oder "wir sind das volk" bei pegida sein... ich würde mich gerne so unvorurteilt und einfach unbelastet zu meiner heimat bekennen können wie es die menschen in anderen ländern tun....

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Als ich in die Schule ging ...
... in den Jahren 1961 bis 1974 wurde uns beigebracht, dass wir uns schämen müssten Deutsche zu sein wegen des Dritten Reiches. Damals habe ich mich davon beeindrucken lassen. Heute finde ich das Schwachsinn, denn ich bin 10 Jahre nach Kriegsende geboren, was habe ich also damit zu tun? Nicht einmal meine Eltern gehörten zu den Erwachsenen während des Krieges, sondern meine Grosseltern.

Also Schämen finde ich dumm, aber stolz darauf sein auch. Schliesslich ist das doch kein Verdienst, Deutscher oder was anderes zu sein, dazu kommt man ganz automatisch durch die Eltern. Für mich richtet Nationalstolz sofort eine Barriere auf, eine Abgrenzung zu anderen und auch ein wenig die Haltung etwas Besseres zu sein als andere. Ich habe einige europäische Länder besucht und überall gibt es etwas, was ich gut finde und etwas, was ich bescheuert finde, so auch in Deutschland.

Ich finde es Schwäche, wenn man nicht in der Lage ist, sich in andere Menschen hineinzuversetzen oder zumindest es zu versuchen. Die eigenen Massstäbe als das Mass aller Dinge anzusehen und die Massstäbe anderer Menschen abzutun und nicht zu respektieren. Diese jungen Leute sollten sich vielleicht mal in Rockerkreisen bewegen, da würde ihnen das Herz übergehen über all die Männlichkeit.

Ich teile nicht die Vorliebe für Prügellösungen, aber deshalb würde ich nie ein ganzes Volk oder eine ganze Kultur als loser bezeichnen.

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Liebe C.Fabry,
Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass alle wirtschaftlichen Entwicklungen mit dem Rollenverständnis der Geschlechter zu tun haben. Das wäre auch für mich etwas zu feministisch :-) Aber ich denke, dass man diesen Faktor auch nicht unterschätzen soll.

1. Saudi Arabien/UAE: Auf das Glück auf den Erdölreserven zu sitzen hat die Stellung der Frau natürlich keinen Einfluss. Aber Saudiarabien ist insofern ein gutes Beispiel, dass die Saudis zur Zeit wegen des niedrigen Ölpreises erhebliche finanzielle Probleme haben, und diese u.a. dadurch versuchen zu lösen, dass... Frauen arbeiten gehen! Sonst reiche das Geld im Haushalt nicht aus. Nachlesen kann man hier: "Here’s why Saudi Arabia is loosening its restrictions on women" https://www.washingtonpost.com/news/monkey-cage/wp/2016/06/27/heres-why-saudi-arabia-is-loosening-its-restrictions-on-women/

2. Natürlich gibt es Frauen, die als Arbeiter ausgebeutet werden. Trotzdem glaube ich, dass eine arbeitende Frau sich weniger gefallen lassen muss als eine, die finanziell von einem Mann zu 100% abhängig ist. Aber klar, die schlechte Stellung der Frau kann sich auf verschiedene Weisen äußern.

3. Da muss ich widersprechen. Es gibt zahlreiche Länder, den es vor 60-70 Jahren schlechter als den arabischen ging, die aber ihre Hausaufgaben gemacht haben und die arabischen längst überholt haben (z.B. Südkorea mit 1100 $ GDP per capita in 1960 und heute das zwanzigfache, übrigens auch die 11. größte Ökonomie und eines der innovativsten Länder der Welt mit Investitionen in Forschung in Höhe von 4,15% des GDP).

Natürlich kann man immer beim "Westen" die Schuld suchen, aber man macht sich das damit ein bisschen zu einfach.

Es ist m.E. nicht die Schuld des Westens, dass die arabischen Länder lieber in die Militär investieren als in die Entwicklung und Forschung (als Beispiel Ägypten: 1,7% vs. 0,68%, Oman 14,1% vs. 0,17, Saudi Arabien 13,5 vs. 0,25%). Es ist auch nicht die Schuld des Westens, dass man sich in diesen Ländern einfacher über das Leben des Propheten habilitieren kann als über etwas vernünftiges und dass die Forschung nur gemacht werden kann, wenn sie Koran-konform ist (Giordano Bruno lässt grüßen).

Es wäre auch unangebracht, bei jemandem anderen die Schuld für die enorme Korruption dieser Länder zu suchen. Mein Mann hat letztens eine Prinzessin aus Oman operiert, alle Rechnungen wurden von der Botschaft bezahlt. Ich bezweifle, dass die Prinzessin dem Staat Oman dieses Geld zurückgibt. Wenn sie die herrschenden Familien aus der Staatskasse bedienen statt in die Bürger zu investieren, dann ist es nicht die Schuld des Westens. Übrigens, jede zehnte Frau in Oman ist Analphabetin, es gebe also etwas zu tun.

Es ist auch nicht die Schuld des Westens, dass das gesellschaftliche Miteinander auf einer sehr hoher Gewaltbereitschaft basiert (Iran/Irak, Iran/Saudiarabien, jetzt Saudi/Jemen, um nur ein paar Konflikte zu nennen). Seit fast 70 Jahren schaffen es diese Länder nicht, vernünftige Beziehungen zu Israel zu entwickeln. Dabei ist Israel ein winziges Land im Vergleich. Und niemand soll mir erzählen, dass die Vergangenheit nicht überwindbar ist. Vor 70 Jahren war Polen und Deutschland im Krieg, Millionen Menschen sind gestorben, meine Großtante hat KZ überlebt, und heute sind beide Länder zusammen in der EU, ich bin mit einem Deutschen verheiratet, und die Beziehungen der letzten 20 Jahre sind so freundschaftlich und friedlich wie noch nie. So verhalten sich zivilisierte Länder. Aber offensichtlich stehen Vernunft und Versöhnung nicht besonders hoch im Kurs in der arabischen Liga.

Hier nachzulesen:
http://www.economist.com/node/1213392
http://www.economist.com/news/leaders/21606284-civilisation-used-lead-world-ruinsand-only-locals-can-rebuild-it

4. Beides kann stimmen, wobei s. Punkt 1. Von der Stagnation in Saudiarabien können vielleicht ausgerechnet die Frauen profitieren.

5. Wenn die Frauen gleichgestellt arbeiten würden, wäre die durchschnittliche Fertilitätsrate von 3-4 Kindern pro Frau nicht haltbar. D.h. das Problem an sich wäre viel weniger ausgeprägt. Niemand würde auf die Idee kommen zu behaupten, dass ein Land ohne Probleme alle ab 50 in die Rente schicken kann, oder? Natürlich hat der Verzicht auf die Hälfte der personellen Ressourcen Auswirkungen auf die Wirtschaft.

Vg und einen schönen Montag (und sorry dass ich erst jetzt zum Antworten komme!)

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Ich moechte etwas ergaenzen
Wir haben viele Freunde aus Aegypten und Libanon, die mein Mann waehrend seiner Arbeit dort kennengelernt hat. Die Frage, warum es der Region so katastrophal schlecht geht, ist eine die sie alle bewegt. Ich habe den Eindruck dass sie nicht versuchen die Schuld irgendwo anders zu suchen, sondern fragen sich was in den gesellschaften selbst fallsch lief. Viele sagen, dass die fehlende Abgrenzung zwischen Staat und Religion auch dazu beitraegt. Beispielsweise gibt es die beruehmteste Universitaet der islamischen Welt in Cairo namens Al Azhar Universitaet. Der Rektor wird vom Praesidenten gewaehlt. Die Universitaet beschaeftigt sich zum groessten Teil mit dem Islamstudium und nicht mit der Wissenschaft. Die ehemaligen Kollegen meines Mannes beneiden uns sehr um die Verhaeltnisse die an den deutschen Hochschulen zu finden sind.

Hier ein wie ich fand interessanter Artikel :
http://m.faz.net/aktuell/politik/ausland/azhar-universitaet-in-kairo-is-sind-gar-keine-muslime-13631203-p3.html

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Liebe "Aus Sicht einer Frau"
Sie sind mir zugegebenermaßen in der Komplexität Ihrer Überlegungen und der Gründlichkeit Ihrer Recherche überlegen und ich bin seit heute wieder in die Arbeitswelt zurückgekehrt und mein Kopf ist nicht mehr so leistungsfähig.
Zwei Dinge würde ich aber gern noch einmal unterstreichen: Ich denke schon, dass das Zerschlagen von Infrastruktur, gesellschaftlichen Strukturen und Traditionen, das der Kolonialismus und heute vielfach der "Witschaftskolonialismus" mit sich brachte und bringt, die Menschen kulturell entwurzelt, sie verlieren ihre Identität und gewachsenen Werte über Generationen, das lässt sich nicht mal eben wiederherstellen. Vielleicht ist das eine wesentliche Ursache für Korruption, Verrohung und Radikalisierung. Oder - ein Freund aus Italien meinte mal: denen scheint im Süden zu viel die Sonne auf den Kopf, davon werden die ganz Irre und müssen sich dauernd bekriegen. (Das glauben wir nicht im Ernst :-) )
Und noch einmal auf die nationale Identität zurückzukommen: In meinem eigenen Land fühlte ich mich die ersten 28 Jahre meines Lebens wie eine Migrantin, die Probleme mit der hiesigen Kultur hat und mit der vor allem die Einheimischen Probleme haben. Als ich dann mit Ende 20 anfing, regelmäßig nach Italien zu reisen, hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, dass ich total in Ordnung bin, war vom Benehmen der dort lebenden Menschen in keinster Weise befremdet, fühlte mich angenommen und verstanden. Warum sollte ich mich mit meinem eigenen Land identifizieren? Die Liegestuhl-mit-dem-Handtuchreservierer mit ihrer Gartenzwerg-Mentalität gehen mir auf die Eierstöcke. Dann lieber Papagalli unter sengender Sonne :-)
Danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, mir so ausführlich zu antworten. Viele Grüße,
Cristina Fabry

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Liebe Frau Fabry,
Auch meine Leistungsfähigkeit auf dem Blog wird bald sinken, denn ich bin nur noch eine Woche im Urlaub. Mein Mann ist schon leicht angenervt, weil ich ständig mit dem ipad rumlaufe :-)
Schöne Grüße!

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Scham und Stolz
Ich empfinde sowohl Scham als auch Stolz in Bezug auf meine deutsche Identität. Ich schäme mich für den Holocaust und für dessen Verdrängung. Ich schäme mich genauso dafür, dass es 1976 zu einer Entführung eines Flugzeugs durch die „Revolutionären Zellen“ kam, bei der die Passagiere in Nichtjuden und Juden (!) eingeteilt wurden.

Stolz bin ich zum Beispiel darauf, dass es in unserem Schulsystem einen Kampf gegen geschlechtsspezifische Pädagogik kam (Jungen: Basten, Mädchen: Handarbeit) und dass immer noch dafür gekämpft wird, Frauen die gleichen Möglichkeiten zu eröffnen. Stolz bin auch auf die vielen Frauen, die sich nicht darauf beschränken ließen, Kinder in die Welt zu setzen, sondern diese Welt auch aktiv mitgestaltet haben.

Aber die Begriffe Scham und Stolz sind für mich auch irreführend. Denn im Grund kann man natürlich nur auf das stolz sein, was man selbst persönlich geleistet hat und man kann sich auch nur für das schämen, was man selbst verbockt hat. Das trifft insbesondere auf den Begriff des Stolzes nicht zu, denn wenn man sich beispielsweise einige derjenigen ansieht, die ständig ihren Stolz auf die deutsche Kultur betonen, dann ist unübersehbar (vor allem unüberhörbar), dass gerade diese Spezies so gut wie nichts über das wissen, was man im allgemeinen mit deutscher Kultur verbindet. Fragen Sie mal einen Skinhead, was genau er über Kant, Hegel, Goethe, Schiller etc. weiß.

Beim Begriff der Scham fällt mir Günter Grass ein, der sofort nach einer Brandstiftung in einem Ausländerwohnheim auf die Straße ging und im Interview sagte: “ich schäme mich“. Schon kurze Zeit danach kam heraus, dass es sich bei dem Brandstifter nicht um einen Nazi, sondern um einen Libanesen handelte, der damit auf eine Ehrverletzung reagierte. Grass hat genau das getan, was schon fast ein Mechanismus ist – die Einteilung in grundsätzlich unschuldige Opfer auf der einen Seite und in grundsätzlich Schuldige auf der anderen Seite. Gerade jemand wie Grass, der selbst bei der Waffen-SS war, hätte eigentlich wissen müssen, dass das Leben ein bisschen komplizierter als schwarz-weiß ist.

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Ja, es fanden auch übrigens Mahnwachen gegen Rechts, nachdem schon bekannt war, dass in einer Flüchtlingsunterkunft für den Brand ein Syrer verantwortlich war, der Hakenkreuze auf die Wand malte, um die Ermittler zu verwirren.

http://m.focus.de/politik/videos/brand-in-bingener-fluechtlingsheim-26-jaehriger-syrer-legte-feuer-und-schmierte-hakenkreuze_id_5424827.html

Worauf - aus meiner "Migranten"-Sicht ;-) - die Deutschen auch sehr stolz sein können, ist die enorme Arbeit und Energie, die sie in die Verarbeitung der Geschichte investiert haben. Kein anderes Land hat sich meiner Meinung nach so intensiv mit den dunklen Kapiteln der eigenen Vergangenheit auseinandergesetzt (und damit meine ich Ungarn, Amerikaner usw.). Nur kluge, aufgeklärte Menschen können das leisten und es ist bewundernswert. Nicht zuletzt deswegen ist Deutschland heute so offen, tolerant und freundlich (was leider auch gerne ausgenutzt wird, aber das ist eine andere Story...).

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