Montag, 16. Januar 2017
Das Ende der Welt wie wir sie kennen...
...dachte ich gestern, als ich den Artikel in der taz gelesen habe, der das jüngste Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs kommentierte. Zur Erinnerung: das Gericht in Straßburg entschied, dass der staatliche Erziehungsauftrag im Sinne der Integration und Koedukation die religiösen Vorstellungen der Eltern überwiegt und verpflichtete somit muslimische Mädchen zur Teilnahme an den schulischen Pflichtveranstaltungen wie Sport- und Schwimmunterricht, auch wenn dieser gemeinsam mit Jungs stattfindet.



Die Koedukation wird generell als eine wichtige Errungenschaft der Aufklärung und des Feminismus erachtet. Junge Menschen sollen eben nicht primär innerhalb ihrer Geschlechterrolle wahrgenommen werden, sondern vor allem sie selbst sein, unabhängig des Geschlechts; sie lernen zusammen, haben männliche und weibliche Freunde und erleben das gemischte Zusammenleben als etwas normales. Der früher übliche getrennte Unterricht führt als eine Form des Geschlechterapartheids zu sexuellen Spannungen und Mystifizierung des anderen Geschlechts.

Dass ausgerechnet in einer linksfeministischen Zeitung wie taz ersthaft darüber nachgedacht wird, ob der getrennte Unterricht für die Klassen 7-10 nicht sinnvoller wäre, hätte ich nicht für möglich gehalten:



Zur Unterstützung ihres Vorschlags erinnert die Autorin an unschöne Momente aus dem schulischen Alltag: "Eine Hand gleitet unauffällig in die Schultasche, kommt den Tampon dicht umschließend wieder hervor und trifft auf eine andere umschlossene Hand, die sich nur für den Bruchteil einer Sekunde für die Übergabe öffnet. Glückt die Choreografie einmal nicht und der Tampon landet auf dem Fußboden, wird er von den fasziniert-angeekelten Jungs sofort in Wasser getunkt und fortan als Wurfgeschoss benutzt. Peinlich."

Abgesehen davon, dass mir solche Situationen erfreulicherweise völlig erspart blieben (und das im katholischen Polen!), würde ich gerne wissen, wie 17-jährige Jungs wohl auf den Anblick eines Tampons reagieren, wenn sie die letzten drei Jahre gar keinen Kontakt mit Mädchen hatten.

Ich frage mich, warum Katrin Gottschalk, die sich zweifelsohne für eine Feministin hält, plötzlich solche Positionen vertritt. Der Gedanke verstößt gegen so ungefähr alles, was ein feministisches Herz bewegt. In der Zeit, in der das Geschlecht häufig als kulturelles/soziales Konstrukt definiert wird, sollen Kinder nach Geschlecht in zwei Gruppen unterteilt werden? Und moment mal, zwei? Hat uns die Genderforschung der letzten Jahre nicht beigebracht, dass es weit mehr als nur zwei Geschlechter gibt und dass die Weltsicht, die nur weiblich und männlich kennt, eingeschränkt, spießig und reaktionär ist?

Der Artikel beginnt mit zwei Sätzen über das Urteil aus Straßburg, danach wird aber die Thematik der Schwimmbefreiung der Musliminnen mit keinem Wort mehr erwähnt, was der Autorin übrigens ein paar bissige Kommentare ("niveauloser Teaser") brachte. Ich vermute aber, dass diese Verbindung einiges zu den Hintergründen des Artikels beleuchten kann. Es erinnert mich an die reflexartige Verteidigung des Islam, die sich viele Feministinnen auf die Fahnen geschrieben haben und die vor einem Jahr als Antwort auf Kölner Silversterübergriffe nichts mehr bot als den Vergleich mit dem Oktoberfest und die Auch-weiße-Männer-üben-Gewalt-aus-Mantra. Und jetzt wird uns erklärt, dass Koedukation Nachteile hat und die Eltern, die ihre Töchter dermaßen kontrollieren wollen, dass sie sich in den Schulunterricht einmischen, eigentlich weitsichtig und klug sind? Simone de Beauvoir dreht sich im Grab um...

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