Sonntag, 30. Oktober 2016
Verhütung statt Enwicklungshilfe?
Der medizinische Standard in Mexiko hängt davon ab, wie viel Geld man bereit ist auszugeben. Es gibt drei Arten von Krankenhäusern: die privaten, die einen amerikanischen Standard anbieten (durch die Nähe zu den USA ist es sowieso üblich, für ein paar Monate während der Facharztausbildung in den Staaten zu hospitieren, und das Ausbildungssystem hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem amerikanischen), die normalen Krankenhäuser für versicherte Arbeitnehmer/Angestellte und schließlich die Kliniken für Patienten ohne Versicherung, die theoretisch eine Bezahlung für die Leistungen, wie z.B. Geburtsbetreuung erwarten, faktisch aber werden die meisten davon befreit, weil sie zu arm sind.

Es gibt einige Unterschiede, die einem Gynäkologen aus Europa sofort auffallen werden. Zum einen verwendet man bei der erschwerten Geburt eher die Zange, die in Deutschland nur noch selten gewählt wird, als die Saugglocke, die mexikanischen Geburtshelfern wiederum häufig nicht bekannt ist. Die Geburten finden in einem Saal statt, der einem Operationssaal ähnelt, und nicht dem deutschen, kuscheligen Kreissaal mit gedämmtem Licht und sanfter Musik. Die Hebammen gibt es in den Großstädten kaum, ihre Funktion übernehmen Medizinstudenten, für die ein mehrmonatiges Praktikum in der Geburtshilfe Pflicht ist und die meistens während des Studiums 200-300 Geburten leiten. Aber das was einen europäischen Arzt im ersten Moment sprachlos macht ist die in den Krankenhäusern für nicht versicherte Patienten weitverbreitete Praxis, sofort nach der Geburt eine Verhütungsspirale einzulegen. In Deutschland undenkbar! Vor allem aus praktischen Gründen, da die Gefahr recht hoch ist, dass sich die kleine Spirale (ca. 2 cm) kurz nach der Geburt verabschiedet - durch den Muttermund kam schließlich dreißig Minuten zuvor ein drei Kilo schweres Baby durch, wie soll da die Spirale nicht rausfallen? Zweitens, die Infektionsgefahr ist im Wochenbett erhöht, und die Spirale ist ein Fremdkörper, der dieses Risiko zusätzlich erhöhen kann. Und drittens: wer soll die Spirale nach 5 Jahren entfernen? Eine Frau, deren Kontakt mit dem Gesundheitssystem auf die Geburten beschränkt ist, wird sich einen Besuch beim Arzt kaum leisten können. Ich vermute, dass manchen Frauen gar nicht bewusst ist, dass eine Spirale nach der Geburt gelegt wurde. Die Ärzte sind verpflichtet, die Patientin darüber aufzuklären, und sie bestätigt mit ihrer Unterschrift - oder Fingerabdruck wenn sie nicht schreiben kann - dass sie einverstanden ist, aber wer merkt sich solche Kleinigkeiten in der postpartalen Aufregung? Dazu kommen noch die "Indianerinnen" (Nativos), die kein Spanisch sprechen, sondern Mixteca oder einen der zahlreichen einheimischen Dialekte, die wiederum niemand aus der Ärzteschaft spricht.

Hauptsache aber: Spirale drin, das Krankenhaus fällt aus der Statistik nicht raus. Zu meinen Zeiten waren wir verpflichtet, 90% der Gebärenden mit einer Spirale zu versorgen.

Zunächst fand ich dieses Vorgehen absurd und medizinisch schwachsinnig. Dann hat in meinem Dienst eine 14-jährige ihr zweites Baby bekommen, und am nächsten Tag eine 31-jährige ihr achtes - sie sah wie 51 aus. Heute halte ich es für einen der vernünftigsten Ansätze im Kampf gegen Armut. Vor drei Wochen hatte ich die Gelegenheit, den Vortrag von Sabaratnam Arulkumaran während des deutschen Gynäkologenkongresses zu hören. Prof. Arulkumaran ist ehemaliger Vorsitzender der International Federation of Gynecology and Obstetrics (FIGO) und setzt sich für Frauengesundheit ein. Der Fokus seiner Rede war nicht die milliardenschwere Entwicklungshilfe für den Bau hochmoderner Krankenhäuser, sondern etwas viel banaleres und billigeres: Verhütung.

In Afrika leben heute, je nach Schätzung, zwischen 1,1 und 1,3 Milliarden Menschen. Vor 50 Jahren waren es nur 320 Millionen, im Jahr 2040 soll die 2-Milliarden-Marke geknackt werden. Die arabische Welt wuchs in der Zeit von 92 auf 392 Millionen, Pakistans Einwohnerzahl hat sich vervierfacht. Zum Vergleich: in Europa leben heute 740 Millionen Menschen, 1965 waren es 635 Millionen. Eine Afrikanerin bekommt im Laufe ihres Lebens im Schnitt 4,7 Kinder, in manchen Regionen wie Niger, Chad, Somalia und Mali sogar zwischen sechs und acht. Bis auf Afghanistan und Osttimor liegen die 25 Länder mit höchster Fertilität in Afrika.

2010 lebten über 40% der Menschen in Subsahara-Afrika in extremer Armut. Diese ist definitiert als ein Einkommen von unter 1,25 Dollar pro Tag. Gleichzeitig floss in den letzten 60 Jahren über eine Trillion Dollar in Form von Entwicklungshilfe nach Afrika.

Gibt es weniger Armut in Afrika?

Nein.
Nach der Schätzung des
Africa Poverty Report, leben heute mehr Afrikaner in Armut als vor 20 Jahren (die optimistische Schätzung geht von > 330 Millionen in 2012 und 280 Millionen in 1990).

Die großzügig geforderte Entwicklungshilfe trägt häufig dazu bei, dass
korrupte Machtinhaber ihre Macht behalten und nötige Reformen nicht durchgesetzt werden. Ein Teil der Entwicklungshilfe verlässt die reichen Länder gar nicht, sondern wird in Form von Flüchtlingshilfe vor Ort ausgegeben, was aufgrund der Preisunterschiede deutlich weniger Menschen hilft als es beispielsweise in Afrika tun könnte. Ohne das großartige Engagement der Helfer und die guten Intentionen der Spender in Frage stellen zu wollen, bezeichnen manche Experten die üppigen Geldtransfers im Rahmen der Entwicklungshilfe als "dead aid". Die in Zambia geborene Ökonomin Dambisa Moyo ist wahrscheinlich deren bekannteste Kritikerin.



Was kann man also tun? Der Fokus müsste aus meiner Sicht auf der Begrenzung der Bevölkerungsexpolsion liegen. Geschätzte 53% der Frauen in Subsahara-Afrika haben keinen Zugang zu Verhütung oder können sich diese nicht leisten. Dabei kostet eine Kupferspirale 2 Dollar und die Kosten des Einsetzens belaufen sich auf ca. 4-6 Dollar. Erstaunlicherweise bleiben die meisten Spiralen dort, wo sie bleiben sollen (das habe ich selbst mit Erstaunen festgestellt). Es ist die kostengünstigste Form der Verhütung, wirkt bis zu 10 Jahren und ist komplett reversibel. Im Rahmen des PPIUD-Projekts werden Regierungen der Entwicklungsländer ermutigt, diese Form der Verhütung den Frauen zu ermöglichen.

Ich würde hier eine sehr gewagte Vermutung riskieren, dass es im Kampf gegen die Weltarmut mehr gebracht hätte ein Drittel der Entwicklungshilfe der letzten 30 Jahre in die Verhütung zu investieren, als das etablierte, auf Geldtransfers basierte und irrsinnig teure System, das wir heute haben.

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