Freitag, 11. November 2016
Lieber Dr. Sommer, ich habe eine Frage...
Seitdem ich die Online-Fatwasammlungen entdeckte, habe ich manchen spannenden Nachmittag beim Durchstöbern verbracht. Fatwa ist nämlich, entgegen dem gängigen Verständnis, kein Todesurteil, sondern eine Rechtauskunft, die in der Regel von einem islamischen Gelehrten erteilt wird. Es gibt natürlich auch Internetseiten, die auf Fragen wie "Was sagt die Bibel über Wohngemeinschaften?" antworten, aber sie gehen deutlich weniger ins Detail als ihre islamischen Pendants, und es macht weniger Spaß sich dort von einer bis zur nächsten Frage "durchzuklicken". Und - wenn man für eine Stunde vergisst, dass es vielleicht Menschen gibt, die tatsächlich ihr Leben nach den Fatwas versuchen zu richten - kann die Lektüre sehr unterhaltsam sein.

Eine der rege besuchten Seiten, die sich dieser Thematik widmen, ist al-islam.org. Mit rund einer Million Seitenaufrufe pro Monat ist es eine der am häufigsten besuchten englischsprachigen Quellen des Wissens um Islam.



Hier findet jeder etwas für sich, Grönland-Bewohner ("Wie kann man beten und fasten im Polarkreis?"), Physiologie-Interessierte ("Was ist der Unterschied zwischen Schweiß und Urin?"), Schachspieler (die von der Fatwa etwas enttäuscht werden) und Allergiker (die eine überraschend vernünftige Antwort auf ihre Frage bekommen).

Bei den Fragen um Sex und Geschlechterrollen wird es schon ungemütlicher (es sei denn man spielt gerne Schach - dann ist man schon seit der Frage Nr. 82 geknickt).

Was lernen wir zum Thema Geschlechtsreife auf al-islam.org? Die Autoren schreiben, dass wissenschaftlich bewiesen wurde, dass Frauen schneller wachsen/reifen als Männer, und somit schon mit 9 Jahren so weit sind wie 15-jährige Jungs. Das wird auch mit einem anschaulichen Beispiel aus der Pflanzenwelt unterstützt: Die schwache Seerose wächst schneller als die starke Platane. Eine andere Frage betrifft körperliche Züchtigung der Frau. Die Antwort geht ungefähr so: Lieber ratsuchender Ehemann, zunächst musst du wissen, dass der Islam die Situation der Frauen deutlich verbesserte. So ist es deine Pflicht, nett zu deiner Frau zu sein, du solltest sie nie böse ansprechen. Nur wenn sie dir deine Eherechte (na, du weisst schon!) verwehrt, kannst du sie rügen und das Ehebett meiden. Sollte das nicht helfen (und das kommt natürlich sehr selten vor!), ist eine leichte körperliche Züchtigung erlaubt. Die Autoren vergleichen diese sogar mit der Operation eines Kranken und argumentieren, dass manche Frauen den Schmerz suchen, und diese Vorliebe in einer psychologischen Störung enden kann, so dass in diesem Fall die Züchtigung eine Krankheit heilt.

Schon wieder was gelernt.

... comment

 
Nie davon gehoert!
Habe einen Teil gelesen. Abgesehen von den Fatwas zur Zuechtigung (die hoffentlich niemand ernst nimmt?!!!) fand ich die Frage nach der koranischen Stellungnahme zum Niesen irgendwie ganz suess!

... link  

 
Ja, es gibt auch bekloppte Muslime,
aber wie Sie ja schon eingangs erwähnen, eben auch bekloppte Christen. In vielen Kulturen hat es wohl mal irgendwann diesen Hang zur Überregulierung gegeben und im Islam wurde diese noch nicht wie in den christlich geprägten westlichen Industrienationen von anderen schwachsinnigen Ausgeburten der Regelwut abglöst. Wir dürfen jetzt zwar während der Menstruation sexen (Ein Pirat sticht auch ins rote Meer :-) ), aber Gurken und Bananen dürfen nur noch im EU-Norm-Krümmungswinkel gehandelt werden, wir haben Gurtpflicht, müssen überall Handschuhe anziehen, Arbeitszeit muss elektronisch erfasst werden, in der Kinder- und Jugendarbeit darf man keine Belege für Lebensmittel im Verwendungsnachweis abgeben (Lebensmitttel, igitt!, unprofessionell) usw.
Es gibt doch so viele aufgeklärte, freigeistige Muslime wie zum Beispiel Navid Kermani. Ich vertraue darauf, dass die es langfristig schon richten werden. In der Zwischenzeit dürfen Sie aber gern Witze über Fatwas machen :-)

... link  

 
Ich bin absolut sicher, dass es aufgeklärte und sehr sympathische Muslime gibt - einer davon ist mein bester Studienfreund. Die Religion war nie ein großes Thema, weder seine noch meine. Ich hoffe sehr, dass die aufklärende, liberale, säkulare Richtung im Islam stärker wird - eine tolle Frau, die ich sehr bewundere, Seyran Ates, setzt sich dafür ein; sie träumt von einer Moschee, in der Frauen und Männer gemeinsam beten, und die den aufgeklärten Muslimen eine Alternative zu den sehr konservativen Moscheevereinen bieten würde.

Ich wollte die Fatwas tatsächlich vor allem aus dem Grund teilen, dass sie extrem unterhaltsam und lustig sind. Abgesehen von den Frauen-Fatwas, die traurig und beunruhigend sind (und leider wahrscheinlich von manchen Männern als "Freischein" für Gewalt verstanden werden kann), gibt es Tausende von sehr absurden und witzigen Fatwas. Was hält Allah von Veganen? Sind Emoticons korankonform? (Sind sie wohl nicht :-)) Grand Mufti aus Saudiarabien hat auch mal eine Fatwa erlassen, dass Erde flach ist, und der Rektor der Al Azhar Universität aus Kairo eine, die Nachtheit während des Geschlechtsverkehrs verbietet.

Leider gibt es auch Fatwas, die weniger lustig, sondern einfach schädlich sind. In Pakistan wurden z.B. zahlreiche Fatwas von verschiedenen Imamen gegen Impfungen erlassen, so dass leider Pakistan zur Zeit neben Afghanistan das einzige Land ist, in dem Polio endemisch noch vorkommt. Theoretisch kann jeder Imam/Sheikh Fatwas erlassen und ins Internet stellen. Wenn es aber prominente Gelehrte sind, kann man es als semioffizielle Auslegung der Religion sehen. Und dann werden diese weniger lustigen Fatwas gefährlich.

... link  

 
ich habe schon mal eine fatwa-seite gelesen und das war wirklich lustig...man wird fast suechtig und klickt immer weiter, weil es einfach so absurd ist. ich habe eigentlicg an die gefahren dieser fatwas gar nicht gedacht, ich habe aber auch damals die witzigen fatwas zu neutralen themen wie essen, kino, krankhheit etc gelesen

eine seite dazu ist zb
http://www.fatwa-online.com
ich glaube sogar dass es ziemlch offiziell ist

... link  


... comment
 
lapin
Ein sehr guter Post muss man sagen.
Bezueglich Fatwas- jeder hat was davon mal gehoert, auch drueber gelacht-weil die Idee komisch ist. Aber ganz ernst Fatwas sind ganz unterschiedlich von was in Koran steht. Ich danke Ihnen, dass Sie drueber geschrieben haben. Man soll es betonen-alle diesen Regeln gefaehlich sein koennen!

... link  

 
Hallo Lapin,
Ich gebe Ihnen Recht, dass Fatwas nicht zwangsläufig mit dem Inhalt des Korans zu tun haben. Sie beziehen sich häufig auch auf die später entstandenen Hadithe.

Ich bin davon überzeugt, dass die heiligen Bücher (Bibel, Tora, Koran) nur bedingt auf die Gläubigen Einfluss haben. Das neue Testament mit "die andere Wange hinhalten" usw. hat weder die Kreuzzüge noch die Hexenjagd verhindert. Genauso ist es mit dem Koran - es gibt wunderschöne Passagen, die von Frieden, Barmherzigkeit und Spiritualität sprechen, und es gibt auch Suren, die zur Gewalt aufrufen. Je nachdem welche Passagen mehr in den Vordergrund gestellt werden, kann die Auslegung sehr unterschiedlich sein.

Fatwas spiegeln die aktuellen Strömungen in der Religion viel besser wider. Auch wenn im Islam keine zentrale Institution die Marschrichtung vorgibt, kann man in den Fatwas durchaus nach der dominierenden Auslegung suchen.

... link  

 
Für mich besteht einer der großen Unterschiede zwischen Christentum und Islam unter anderem gerade auch in der hohen Bedeutung der Fatwas. Der häufige Erlass von Fatwas steht für das Bedürfnis, ständig alles von höchster Stelle regeln und absegnen zu lassen. Und zwar bis ins allerkleinste Detail. Wer dann diese Vorschriften nicht befolgt, riskiert, damit als ungläubig abgestempelt zu werden. Das Judentum ist darin allerdings noch extremer. Nehmen wir von beidem mal ein Beispiel:

Das muslimische Verbot des Alkoholgenusses mag sicherlich sinnvoll sein, wenn man sich diejenigen vor Augen hält, die mit Alkohol nicht umgehen können und im Alkoholismus enden, was nicht nur für den Betreffenden selbst, sondern auch für sein Umfeld oftmals mit viel Leid verbunden ist. Aber es gibt unzählige Menschen, die moderat mit Alkohol umgehen können und nicht in Abhängigkeit geraten. Ist jemand wirklich ungläubig, wenn er ab und zu mal ein Glas Wein zum Abendessen trinkt?

Das jüdische Verbot der Arbeit am Sabbat ist ebenfalls durchaus sinnvoll, weil das Leben nicht nur aus Arbeit bestehen sollte und ein Innehalten dem Menschen gut tut. Für orthodoxe Juden geht es jedoch so weit, dass man am Sabbat noch nicht einmal einen Fahrstuhlschalter benutzen darf (es gibt dafür extra einen Sabbatfahrstuhl, der automatisch in jedem Stockwerk hält!) und auch kein Hörgerät (es sei denn, dieses wurde bereits vor dem Sabbat angeschaltet!).

Regeln – ob religiös oder nicht – sind nur dann sinnvoll, wenn sie das Zusammenleben erleichtern. Das Einhalten einer Regel nur um der Regel willen ist nicht nur oftmals absurd, sondern es erschwert das Zusammenleben. Bei religiösen Regeln ist dabei das Ärgerliche, dass diejenigen, die sich nicht starr an jede Regel halten, als ungläubig bezeichnet werden. Die Diskussionen drehen sich dann im Kreis oder enden zunehmend in Gewalt. Wer wirklich in seinem Glauben ruht, braucht nicht ständig und überall Regeln und kann auch akzeptieren, wenn andere Menschen anders leben und andere Regeln befolgen.

... link  

 
Wir Christen sind aber auch schlimm,
in der katholischen Kirche kann der Papst ständig zusätzliche Regeln raushauen und es gibt noch immer fromme Katholiken, die den Geschlechtsverkehr nur in den fruchtbaren Tagen der Frau vollziehen.
Wenn ich an meinem Arbeitsplatz - evangelische Kirchengemeinde - vom Pfarrer übergebrüllt werde, weil ich am Ende eines Gottesdienstes die Glocken geläutet habe und damit gegen die hiesige Läuteordnung verstoßen habe... ich dachte echt, ich bin im falschen Film. Menschen sind doof. Schon seit Jahrtausenden :-)
Aber manchmal gibt es welche, denen das eine oder andere Licht aufgeht.

... link  

 
Natürlich gibt auch die Kirche alle möglichen Regeln vor und definiert ihre Vorstellungen vom „richtigen“ Glauben. Aber es bewegt sich etwas und es darf sich auch bewegen. Und was wichtig ist: man darf seinen Unmut ausdrücken, ohne dass eine Fatwa ausgesprochen wird. Auch die Kirche mag es nicht, wenn man sie kritisiert und versucht dann Einfluss zu nehmen. So wie dies beispielsweise vor einigen Jahren geschah, als die Zeitschrift Titanic eine Fotomontage vom damaligen Papst Benedikt auf der Titelseite druckte, die ihn in fäkalienverschmiertem Ornat zeigte. Aber es gab weder Ausschreitungen noch andere Gewalttaten und letztendlich zog die Kirche ihre Anzeige sogar zurück. Wenn man diese Reaktion vergleicht mit den Attentaten, die auf die wesentlich harmloseren Mohamed-Zeichnungen folgten, dann wird der große Unterschied deutlich, der in Bezug auf freie Meinungsordnung herrscht. Es gibt keine perfekte Religion, aber es gibt Religionen, deren Anhänger relativ gelassen mit Kritik umgehen und Religionen deren Anhänger und sogar hohe geistliche Würdenträger sofort zum Töten aufrufen, wie dies zum Beispiel im Iran passierte, als die Fatwa gegen Salman Rushdie ausgesprochen wurde.

... link  

 
@Cristina: Da fällt mir gleich etwas ein. Ich habe in meiner Facharztausbildung in einem katholischen Krankenhaus gearbeitet und es war für mich als Polin und natürlich katholisch getauft ein richtiger Schock zu sehen, wie das Arbeitsrecht der Religion (als Institution) unterworfen wird. Das kannte ich aus meiner Heimat überhaupt nicht, dass ein Chefarzt seine Arbeitsstelle verliert, wenn er zum zweiten Mal heiratet (so lange er mit seiner Partnerin nur zusammenlebte, war es ok, auch wenn es alle wussten). Es war auch selbstverständlich, dass ein Nicht-Christ oder Atheist keine leitende Position wie z.B. Oberarzt übernehmen darf. Eine Krankenschwester musste gehen, nachdem sie sich als Lesbe geoutet hat.

Welch Überraschung für ein junges Mädchen, das dachte, sie sei aus einem rückständigen Land in ein fortschrittliches gekommen!

Ich kann verstehen, wenn die Kirche darauf besteht, dass die Mitarbeiter der Pfarrei oder Katecheten die gleiche Gesinnung haben, aber wir sprechen nicht von direkten Angestellten einer Kirche, sondern von Ärzten/Krankenschwestern, die Menschen unabhängig von ihrer Konfession behandeln sollen, und für deren Arbeit Religion keine Bedeutung hat (bis auf die Tatsache, dass dort keine Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden - das kann ich aber nachvollziehen).

... link  

 
Ich hätte gedacht, dass die kirchliche Personalpolitik in Polen ähnlich ist/war wie die (katholische) in Deutschland und bin erstaunt, dass dies nicht der Fall ist. In Deutschland ist die besagte Praxis immer wieder heftig kritisiert worden.

... link  

 
Interessanterweise ist es nicht so, obwohl Polen ein sehr katholisches Land ist, und die Kirche sich - besonders seit dem letzten Regierungswechsel - in sehr viele Angelegenheiten einmischt. Trotzdem bleibt das Arbeitsrecht davon unberührt. Die Kirche ist auch kein so großer Arbeitgeber wie in Deutschland (hier sind kirchliche Träger der zweitgrößte Arbeitgeber nach dem Staat). Es gibt in Polen wenige kleinere katholische Krankenhäuser und eine sehr große katholische Universität in Lublin (KUL), meines Wissens interessiert dort aber niemanden, ob jemand geschieden ist. Dazu kommt, dass es schwierig ist zu erfahren, welcher Konfession jemand angehört, weil es keine Kirchensteuer gibt, und somit wird die Konfession weder auf der Geburtsurkunde noch auf der Lohnsteuerkarte vermerkt.

In einer anderen Situation sind die Katecheten - sie brauchen eine "missio canonica" von der Kirche, um unterrichten zu dürfen, und diese kann entzogen werden. Da ist aber die Nähe des Berufs zur Kirche und kirchlicher Lehre größer als bei Angestellten der Krankenhäuser/Kindergärten - die übrigens vom Staat mitfinanziert werden.

Ich habe aus Spaß ein bisschen gegoogelt: wenn man in der Suchmaschine auf Deutsch "kirche arbeitgeber" eingibt, bekommt man Hunderte Seiten zu den o.g. Problemen. Wenn man das gleiche auf Polnisch sucht ("kosciół pracodawca"), bekommt man Seiten über... deutsches Arbeitsrecht mit Verweis auf die Verfahren am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (Schüth v. Germany usw) :-) und natürlich auch viele Seiten zum Thema Arbeitsgeber/Arbeitnehmer, die mit der Kirche nichts zu tun haben. Wenn ich bedenke, wie stark einige antikatholische Zeitungen in Polen sind, würde ich davon ausgehen, dass man dazu sehr viel finden würde, wenn es dieses Problem gäbe.

... link  

 
Dass es nach dem letzten Regierungswechsel schlimmer sein könnte mit dem Einmischen der Kirche hatte ich auch schon vermutet. In Deutschland hat es sich auch ein wenig geändert. Ich selbst arbeite bei einem Träger, der der Kirche angegliedert ist und während dort früher noch die Kirchenmitgliedschaft nahegelegt wurde, ist es jetzt nicht mehr so. Ich bin allerdings auch evangelisch.

Es ist übrigens äußerst schwierig, einem Franzosen zu erklären, dass man bei uns „Mitglied“ der Kirche ist. Ich habe es meinem Lebensgefährten nahegelegt, als er vor rund 18 Jahren zu mir nach Deutschland zog, sich bei der Beantragung der Lohnsteuerkarte als römisch-katholisch eintragen zu lassen. Der Grund hierfür war, dass mein Lebensgefährte Erzieher ist und die Kirche – wie Sie ja auch geschrieben haben – ein sehr großer (und wie ich finde auch sehr guter) Arbeitgeber im sozialen und pädagogischen Bereich ist, den wir bei der Arbeitssuche nicht von vorneherein ausschließen wollten. Es hätte natürlich auch die Möglichkeit gegeben, dass er erst im Falle einer Anstellung bei einem kirchlichen Arbeitgeber Mitglied bei der Kirche geworden wäre, aber von einer früheren Kollegin, die nach einem Kirchenaustritt aufgrund eines Arbeitsplatzwechsels wieder in die Kirche eintreten wollte, wusste ich, dass dies bei der katholischen Kirche mit einer Beichte verbunden ist und davon hätte ich meinen Lebensgefährten nie und nimmer überzeugen können.

Ich finde die Diskussion mit französischen Freunden über die registrierte Kirchenzugehörigkeit äußerst interessant (übrigens sind Diskussionen mit Franzosen im allgemeinen meist interessanter als mit Deutschen!), Franzosen finden es äußerst befremdlich, dass man hier offiziell angeben muss woran man glaubt und gerade im Hinblick auf unsere Vergangenheit ist dies natürlich auch tatsächlich eine sehr fragliche Praxis.

Ich habe übrigens vom Recht auf Religionsfreiheit schon als Minderjährige im Alter von 15 Jahren Gebrauch gemacht und bin aus der Kirche ausgetreten, zum Ärger meines Vaters. Grund war die Heuchelei meiner Verwandtschaft, die zwar strikt auf Taufe und Konfirmation bestand, aber sich ansonsten nicht im Geringsten für christliche Werte interessierte. Mittlerweile bin ich seit rund 20 Jahren wieder eingetreten und meine Verwandten sind inzwischen alle ausgetreten, weil sie viel zu geizig sind, um Kirchensteuer zu zahlen und Taufen, Konfirmationen und weiße Hochzeiten alle hinter ihnen liegen. Ja, so unterschiedlich können die Gründe sein für eine Religionszugehörigkeit.

Dies ist übrigens mein Arbeitgeber: http://margaretenhort.de/ eigentlich weist nichts mehr auf die Nähe zur Kirche hin, außer unter der Rubrik „Aktuelles“, in der die Pröpstin als Präventionsansprechpartnerin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche genannt wird.

... link  

 
Auch für Polen ist die "Institutionalisierung" des Glaubens schwer nachvollziehbar. Es ist für uns etwas sehr privates. Ich selbst fand die Frage nach der Konfession auf dem Formular in der Ausländerbehörde vor meiner ersten Arbeit in Deutschland seltsam, dachte aber, dass es nur der Statistik dient. Die Erkenntnis, dass die deutsche Kirche, zu der ich keinen emotionalen Bezug hatte, einige Hundert Euro pro Jahr von mir geschenkt bekommt, war nicht ganz schmerzfrei. Auf der anderen Seite sind dadurch wahrscheinlich die Finanzen der Kirchen transparenter als in Polen.

Sicherlich hat die Kirche in Polen mehr Einfluss auf das Leben als hier in Deutschland. Dass es in ganzen Regionen nicht möglich ist, eine Klinik zu finden, die legale Schwangerschaftsabbrüche durchführt, ist darauf zurückzuführen. Seitdem die Kaczynski-Partei gewonnen hat, sind mehrere Gynäkologen, die in den kommunistischen Zeiten Tausende Abtreibungen durchführten, zu Sittenwächtern und moralischen Instanzen geworden.

Wenn mich also jemand von Jahren gefragt hätte, wo Ärzte ihren Job nach der Wiederheirat verlieren, hätte ich wahrscheinlich gesagt: In Deutschland unmöglich, in Polen vielleicht. Dass es umgekehrt ist, war ein kleiner Schock.

... link  

 
Das mit den Krankenhäusern regt mich auch immer wieder auf. Dass man in kirchlichen KiTas gern Konfessionszugehörige haben möchte, finde ich dagegen nachvollziehbar. Die KiTas sind Teil der Gemeinde, arbeiten auch religionspädagogisch. Es sollte kein Problem sein, wenn da ein, zwei Leute arbeiten, die nichts damit am Hut haben, aber so etwas kann auch nach hinten losgehen. Es gibt zum Beispiel in der evangelischen Jugendarbeit auch Kollegen, die behaupten, in ihren Einrichtungen Religion überhaupt zum Thema zu machen, sei religiöse Beeinflussung und damit ungesetzlich. Eine kirchliche Jugendarbeit, die vollkommen säkularisiert ist, ist keine kirchliche Jugendarbeit mehr.
Kirchensteuer vom Staat einziehen zu lassen, darf man berechtigterweise kritisieren, aber dass man was bezahlen muss, wenn man dazu gehören will, finde ich schon okay, sonst kann man den Laden ja dicht machen :-)

... link  

 
Ich kann die Argumentation der Kirchen nachvollziehen, natürlich möchte man - wenn man den erzieherischen Anspruch hat - unter Gleichgesinnten arbeiten. Die spannende Frage ist: was hat einen höheren Wert, die persönliche Freiheit des einzelnen (Arbeitnehmer) oder die Rechte der Kirche? Früher standen deutsche Gerichte eher auf der Seite der Kirchen, dies hat sich seit den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte allerdings ein bisschen geändert. Ich finde es sehr überraschend, dass solche Vorkomnisse, wie Kündigung nach Wiederheirat usw, ausgerechnet in Deutschland möglich sind. Meines Wissens haben die meisten EU-Länder ein einheitliches Arbeitsrecht ohne Ausnahmen für kirchliche Träger. Und wir sprechen nicht nur über Menschen, die nicht eingestellt werden, sondern über langjährige Mitarbeiter, die gekündigt werden weil sie angeblich kein kirchenkonformes Leben führen. Und fast immer stellt sich heraus, dass alles schick war, solange z.B. die neue Beziehung des Chefarztes nicht legalisiert wurde oder die Krankenschwester sich nicht offiziell zu ihrer Partnerin bekannt hat. Das ist für mich eine typische katholische Heuchelei.

Ich denke, dass dieses Thema (das mich genauso wie Sie, Cristina, aufregt :-)) nicht so wichtig wäre, wenn es sich um eine Randerscheinung handeln würde. Wenn wir hierzulande 5% konfessionelle Kitas und 5% konfessionelle Krankenhäuser hätten, würde man eine Auswahl haben. Solange die Kirche der wichtigste Arbeitsgeber nach dem Staat bleibt, gelten für sehr viele Arbeitsnehmer Regeln, die mit einem modernen Arbeitsrecht wenig zu tun haben.

... link  

 
Ich glaube nicht, dass es im Fall von einer Kita in erster Linie daraum geht, mit Gleichgesinnten zu arbeiten, sondern dass bestimmte pädagogische Ziele angestrebt werden, über die Konsens bestehen sollte. Die Kita in meiner Gemeinde, die ich durch eine Klientin ganz gut kenne, legt sehr viel Wert auf Sozialverhalten und Gewaltlosigkeit und auf Thematisierung christlicher Vorstellungen. Wenn jemand diese überhaupt nicht teilen würde, wäre das Konzept der Kita nicht mehr wirklich umsetzbar.

Dabei fällt mir ein Kuriosum aus meiner Arbeitswelt ein, über das ich in anderem Zusammenhang nochmal schreiben wil, nämlich eine Muslimin, die ihr Kind bewusst in einen evangelischen Kindergarten schickte. Als ich darüber erstaunt war, antwortete sie, dass ihre Tochter dort als besser aufgehoben empfinden würde. Sie wohnte in Hamburg-Wilhelmsburg, in der es einen hohen Migrantenteil gibt und es in der Schule und Kita oft zu Gewalt/Abzocke kommt. Die Mutter, eine kurdische Geschäftsfrau, die man als gut integriert bezeichenen kann, sagte mir, dass sie die Art ablehnt, wie manche Muslime ihre Kinder erziehen (bzw. nicht erziehen). Nichtsdestotrotz ist sie gläubige Muslimin.

... link  

 
Hallo Frau Behrens,

Jetzt sind die "sozialen" Berufe in unserer Diskussion gut repräsentiert :-)

Ich kann verstehen, dass eine gemeinsame "ideologische" Ausrichtung mit Fokus auf Nächstenliebe, Toleranz usw. erwünscht ist. Nur frage ich mich, was letztendlich die Kinder mitnehmen, wenn ihre lange geschiedene Erzieherin gegangen wird, weil sie ihren Partner heiratet. Ist es besser, wenn sie mit ihm inoffiziell lebt? Was wenn sie ein gemeinsames Kind erwarten? Das zeugt nicht von Respekt für die persönlichen Entscheidungen anderer Menschen. Vielleicht wurde sie von ihrem ersten Mann verlassen? Für mich hat es mit der Nächstenliebe wenig zu tun, wenn jemand in dieser Situation nach vielen Jahren guter Arbeit gekündigt wird.

Die Frage kann doch viel weiter gehen. Darf jemand in einer kirchlichen Einrichtung arbeiten, wenn er dank IVF Vater geworden ist? Wenn eine Frau die Pille nimmt? Die Stellung des Vatikans dazu ist eindeutig, auch wenn sich Kirchenvertreter in Deutschland dazu nicht radikal äußern. Das sind sehr private Sachen. Auch wenn wir allgemein unter "christlichen Werten" positives verstehen, gibt es auch Schattenseiten (keine Akzeptanz der Homosexualität, ablehnende Haltung gegenüber gemischtkonfessionellen Ehen etc. - hier in Deutschland sind die Einstellungen der katholischen Kirche eher milde, in Polen aber gibt es durchaus Hardcore-Katholiken, die sehr konservativ sind und es würde mich freuen, wenn der Staat die Arbeitnehmer von solchen rigiden Wertvorstellungen schützen würde). Mir würde ausreichen, wenn die Erzieherin meines Kindes eine gute, liebe Person ist, die die "positiven" Werte vertritt, und das ist nicht an Konfession gebunden.

Vielleicht noch ein Beispiel aus meinem Arbeitsumfeld. In vielen katholischen Krankenhäusern gilt, dass zumindest Mitarbeiter in leitenden Positionen entsprechend der katholischen Lehre leben sollten. Ich falle als Oberärztin und Leiterin der Abteilung auch unter diese Definition und könnte mir wahrscheinlich keine Scheidung erlauben (die ich erfreulicherweise nicht anstrebe). Ich kenne einige Chefärzte, die seit Jahrzehnten von ihren Ehefrauen getrennt leben und mit der neuen Partnerin ein gemeinsames Haus und nicht selten auch Kinder haben. Die Angst vor der Kündigung (begründet!) führt dazu, dass die neue Partnerin (häufig "neu" seit 20 Jahren) keinerlei finanzielle Sicherheit hat, sollte dem Mann etwas passieren. Wenn er plötzlich krank wird, wird sie nicht mal Auskunft bekommen dürfen, im Falle des Todes gehört ihr - gemeinsam gekauftes - Haus zum Teil der offiziellen Ehefrau. Das sind absurde Situationen, die mit der Lebenswirklichkeit und einem respektvollen toleranten Umgang miteinander wenig zu tun haben.

Ps. Ich kenne einige muslimische Eltern, die ihre Kinder unbedingt in die katholische Kita/Schule schicken wollen, zum einen wegen der dort üblichen gewaltfreien und offenen Erziehung, und zum anderen damit das Kind möglichst viel Kontakt mit den deutschen hat. Ich habe auch gelesen, dass gerade erfolgreiche Türken/Araber aus den Brennpunkten wegziehen, um den Kindern bessere Chancen auf Integration zu geben. Ich würde auch ungerne meine Kinder auf eine Schule mit 50%-Anteil an polnischen Schülern schicken - Polnisch können sie von mir lernen :-)

... link  

 
Na, eine russische Nachmittagsschule zweimal in der Woche waere auch schoen damit die Kids wirklich gut die Sprache der Mama lernen :o)

... link  

 
Hallo Sephora,

Dagegen hätte ich auch nichts. Ich glaube, dass es für die Kinder sehr von Vorteil ist, zweisprachig aufzuwachsen. Aber es wäre nicht hilfreich, wenn die Mehrheit der Schüler aus Polen kämen. Dann hätte ich Sorge, dass sie sich sowohl zu Hause als auch in der Schule zum größten Teil auf Polnisch unterhalten, und dass sie keinen Kontakt zu ihrer neuen Heimat entwickeln.

... link  

 
Hallo aus-Sicht-einer-Frau,
ich stimme mit Ihnen völlig darin überein, dass eine Scheidung eine private Angelegenheit ist, die keine Auswirkung auf das Arbeitsverhältnis haben darf. In der evangelischen Kirche ist das ja auch kein Problem, mittlerweile werden ja auch homosexuelle Pastoren weitgehend toleriert. Allerdings fällt mir jetzt auch gerade ein Gegenbeispiel ein. Ich nehme schon seit Jahren an Meditationsseminaren bzw. Exerzitien teil. Während es in einem katholischen Benediktinerkloster kein Problem darstellt, als unverheiratetes Paar ein Doppelzimmer zu bewohnen, gibt es ausgerechnet eine evangelische Seminarstätte, die im Programmverzeichnis ausdrücklich darauf hinweist, dass unverheiratete Paare sich kein Zimmer teilen dürfen. Ich mache zwar meine Seminare immer ohne meinen Partner, aber ich hätte dennoch keine Lust, in der besagten Einrichtung ein Seminar zu belegen, weil ich dies einfach als zu engstirnig empfinde. Ich könnte mich an so einem Ort einfach nicht wohlfühlen und habe auch überlegt, die Programmzusendung mit dieser Begründung abzubestellen.

In Deutschland gib es übrigens im Betriebsverfassungsgesetzt die sogenannten „Tendenzbetriebe“, die eine bestimmte politische, religiöse oder künstlerische Ausrichtung haben, aufgrund der es für Arbeitgeber Sonderrechte gibt. Ich hoffe, dass die betreffenden Arbeitnehmervertretungen offensiver werden, zumal ja der jetzige Papst nicht so weltfremd und konservativ wie die vorigen ist und dadurch vielleicht doch Aussicht auf ein paar Reformen bestehen.

... link  

 
Dass diese Zimmerregel ausgerechnet in einer evangelischen Einrichtung gilt, hätte ich nicht gedacht! Ich hatte immer den Eindruck, dass evangelische Kirchen realitätsnäher sind als die katholische.

Ich würde dem Papst Daumen drücken, dass er einiges ändert - aber ob er sich damit durchsetzen kann? Bei einigen seiner Äußerungen bekommt man Hoffnung, dass er etwas mehr darüber weiß, wie das Leben seiner Schäfchen aussieht :-) Wenn ich mir aussuchen dürfte, was er ändern soll, würden sicherlich die Themen IVF, Verhütung und Homosexualität ganz oben liegen.

... link  


... comment