Montag, 26. September 2016
Ein ganz normaler Frauenarztbesuch oder Die Bedeutung des Jungfernhäutchens
Heute werde ich über ein Thema schreiben, mit dem ich zum ersten Mal erst nach meinem Umzug nach Deutschland konfrontiert wurde.

Gestern hat meine Praxis eine 18-jährige Patientin türkischer Herkunft aufgesucht, die hier in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Das Mädchen, nennen wir sie Aygül, plant bald zu studieren, trägt kein Kopftuch und ist sehr sympatisch. Sie ist Jungfrau und berichtet über starke Unterbauchschmerzen, die eine ganz normale gynäkologische Untersuchung auch mit Ultraschall erforderlich machen. Und hier - und das habe ich mehfach erlebt - ist auch bei einem so modernen, gut integrierten Mädchen wie Aygül der Ablauf des Frauenarztbesuchs grundlegend anders als bei einem deutschen Mädchen.

Bei einer jungen deutschen Heranwachsenden, die noch nicht sexuell aktiv ist, ist es in der Regel kein Problem, eine normale Untersuchung durchzuführen. Ein muslimisches Mädchen bekommt aber Panik schon beim Anblick der Instrumente und der Ultraschallsonde, und die wichtigste Frage lautet: Kann das Jungfernhäutchen einen Schaden nehmen?

Dass diese Problematik überhaupt existiert, war mir lange Zeit nicht bewusst, obwohl ich aus dem sehr religiös geprägten Polen komme, und in meiner Heimat den Wunsch, als Jungfrau in die Ehe zu gehen, sicherlich mehr junge Frauen teilen als in Deutschland. Generell sind polnische Mädchen älter beim ersten Geschlechtsverkehr als die deutschen. Trotzdem beeinflusst diese Tatsache solche alltäglichen Situationen, wie den Besuch beim Frauenarzt, nicht, denn eins ist klar: Auf den "Richtigen" zu warten, ist eine sehr private, intime Entscheidung, und wenn sie in einem religiösen (in diesem Fall katholischen) Kontext getroffen wird, dann in vollem Bewusstsein, dass Gott alles weiß, und sich nicht auf ein paar Milimeter überschüssiges Gewebe fixieren muss.

Bei den muslimischen Mädchen scheint es anders zu sein. Die Erwartung, als Jungfrau in die Ehe zu gehen, ist sehr stark gesellschaftlich verankert und hängt mit dem Ehrbegriff dieser Kulturkreise zusammen. Ein türkisches Sprichwort bringt es gut auf den Punkt: Die Ehre des Mannes liegt zwischen den Beinen der Frau. Der Wert eines Mädchen wird durch seine Keuschheit und Jungfräulichkeit bestimmt, und sollte ein Mädchen ihre Sexualität vor der Ehe ausleben wollen, steht die Ehre der ganzen Familie, wenn nicht der ganzen Community, auf dem Spiel. Dieses für uns befremdliche Verständnis der Ehre ist leider für die tragischen Schicksale vieler jungen Frauen verantwortlich, die Opfer eines Ehrenmordes oder einer Zwangsheirat werden.

Aber zurück zu Aygül. Wir haben uns geeinigt, auf die Untersuchung zu verzichten, und uns stattdessen auf den Ultraschall durch den Bauch zu beschränken. Und das obwohl ich sie, wie alle anderen Mädchen, darüber aufgeklärt habe, dass die Zuverlässigkeit dieser Methode sehr eingeschränkt ist: Eierstockszysten lassen sich nicht so gut darstellen, und die Entscheidung, ob eine Operation notwendig ist, ist leider auch erschwert. Dabei kann es im schlimmsten Fall dazu kommen, dass sich ein Eierstock um die eigene Achse dreht und durch die Unterbrechung der Durchblutung komplett abstirbt - für eine junge Frau, die in Zukunft Kinder haben möchte, eine folgenreiche Komplikation! Trotzdem hat sich Aygül dagegen entschieden, untersucht zu werden.

Da mich dieses Thema persönlich interessiert, und Aygül eine intelligente junge Frau war, mit der ich mich gut unterhalten konnte, habe ich sie gefragt, warum das Jungfernhäutchen eine so große Rolle für sie spielt, während es für ihre deutschen Klassenkameradinnen wahrscheinlich ein sehr unwichtiges anatomisches Detail darstellt. Erwartet die Familie etwa, dass es in der Hochzeitsnacht bluten sollte? Wird es geprüft? Für mich eine mittelalterliche, albtraumähnliche Vorstellung... Ob Aygül wüsste, dass sehr viele Frauen beim ersten Geschlechtsverkehr nicht bluten? Ja, das wisse sie. Nein, das Blut wird weder erwartet noch geprüft. Sie möchte aber für Allah ihre Jungfräulichkeit bis zur Ehe behalten. Diese Argumentation kann ich gut nachvollziehen (bin schließlich polnisch und katholisch!), aber die entscheidende Frage konnte mir Aygül nicht beantworten: Warum interessiert Allah das kleine Hautstück, wenn er doch weiß, ob eine Frau Jungfrau ist oder nicht?



Interessant zu diesem Thema sich die Bücher von Güner Balci, Ahmad Mansour und Seyran Ates. Besonders den Film "Der Jungfrauenwahn" von Güner Balci kann ich empfehlen:

https://www.youtube.com/watch?v=sZ5c9FcScps

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